Was ist Krankheit? Was ist Gesundheit?
Krankheit – ein Schicksalsschlag oder eine unvermeidliche Begleiterscheinung des Lebens? Gesundheit – ein Idealzustand oder einfach die Abwesenheit von Krankheit? Diese Fragen sind nicht nur medizinisch, sondern auch philosophisch von grosser Bedeutung.
Krankheit ist im medizinischen Sinne eine Fehlfunktion des Körpers, die zu Symptomen und Beeinträchtigungen führt. Doch die Wahrnehmung von Krankheit ist äusserst unterschiedlich. Manche betrachten sie als Strafe oder Unglück, andere sehen sie als normalen Bestandteil des Lebens. Die moderne Medizin kann viel zur Behandlung von Krankheiten beitragen, doch sie kann nicht verhindern, dass Menschen erkranken – denn kein Mensch stirbt gesund!
Eine Landwirtin im Notfalldienst reagiert ganz erstaunt, als ich bei ihr die Diagnose einer entzündlichen Rheumaerkrankung stelle, weil sie aus ihrer Sicht immer richtig gelebt habe und nur Gemüse aus ihrem Garten gegessen hat. Diese Denkweise ist weit verbreitet: Wer gesund lebt, bleibt gesund. Doch Krankheit ist nicht immer eine Folge von Lebensstil oder Umweltfaktoren – oft sind genetische oder unvorhersehbare Einflüsse die Ursache. Auch wenn eine gesunde Lebensweise das Risiko vieler Erkrankungen senkt, kann sie sie nicht vollständig verhindern.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO formulierte 1946, dass Gesundheit ein Zustand „vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“ sei – eine Definition, die als utopisch kritisiert wurde. Wenn Gesundheit so umfassend verstanden wird, sind nur wenige Menschen wirklich gesund. Gerade in einer Welt, in der viele mit wirtschaftlichen, sozialen oder psychischen Belastungen kämpfen, erscheint ein solcher Idealzustand unerreichbar.
In der medizinischen Praxis zeigt sich, dass Gesundheit relativ und subjektiv ist. Viele Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen haben eine hohe Lebensqualität, auch wenn sie objektiv „krank“ sind. Was bedeutet das für unser Verständnis von Gesundheit? Müssen wir es dynamischer definieren? Besonders bei psychischen Erkrankungen zeigt sich, dass die Grenze zwischen „gesund“ und „krank“ oft verschwimmt. Unsere Gesellschaft misst Gesundheit oft an Leistungsfähigkeit und Produktivität – doch ist das wirklich die richtige Perspektive?
Krankheit und Gesundheit sind keine absoluten Gegensätze. Sie sind Bestandteile des Lebens, die sich gegenseitig bedingen. Wir müssen akzeptieren, dass unser Körper nicht perfekt ist und Krankheiten zum Leben gehören. Wer dies anerkennt, kann mit ihnen besser umgehen – und vielleicht ein erfüllteres Leben führen, trotz oder gerade wegen dieser Erfahrungen.
Dr. med. Giovanni Fantacci, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin mit Hausarztpraxis in Niederhasli.